Automatisierung, Digitalisierung & KI: Interview mit Linde MH-Markenchefin Ulrike Just

Future Talk: Intralogistik

Autonome Outdoor-Stapler, KI-Anwendungen, mit deren Hilfe sich komplette Lagerumgebungen digital simulieren lassen – und Software-Plattformen, die Materialflüsse bis ins kleinste Detail transparent machen: All dies ist längst keine Vision mehr, sondern wird binnen weniger Jahre Realität werden, sagt Ulrike Just, Mitglied der Geschäftsführung von Linde Material Handling. Im Interview erklärt die Linde MH-Markenverantwortliche, welche enormen Mehrwerte diese Entwicklungen für Kundenunternehmen mit sich bringen und wie dadurch die Rolle des Menschen in der Intralogistik neu definiert wird.

Frau Just, seit rund anderthalb Jahren tragen Sie die Markenverantwortung für Linde MH. Übertreiben wir, wenn wir sagen: Es gab in der Intralogistik selten spannendere Zeiten für eine Markenchefin?

Ulrike Just: Ganz und gar nicht. Ich würde das sogar als Untertreibung sehen. Das Tempo, mit dem sich unsere Branche gerade wandelt, ist wirklich enorm – weil natürlich auch die Herausforderungen für Kundenunternehmen enorm sind: marktseitig, kostenseitig, energieseitig und allen voran personalseitig. Ganz deutlich hat man das auf der diesjährigen LogiMAT gespürt. In nahezu allen Kundengesprächen ging es irgendwann um die „großen Hebel“, mit deren Hilfe man diesen Challenges begegnen kann. Und ein wichtiger davon ist Automatisierung.

Erkennen Sie dabei Unterschiede zwischen den Kundengruppen? Wem brennt die Automatisierung derzeit mehr auf den Nägeln – dem Konzern oder dem klassischen Mittelständler?

Ulrike Just: Logischerweise haben viele Industrie-Player das Thema schon länger auf dem Schirm, verfügen also über einen höheren Reifegrad als manche KMU. Dies hängt auch damit zusammen, dass Automatisierung zunächst gewisse Investitionen erfordert. Aber, und das hat sich tatsächlich spürbar geändert: Inzwischen findet man kaum noch Unternehmen – egal welcher Größe –, die einen Bogen um diesen Megatrend machen. Man hat schlichtweg erkannt: Wer auf Dauer wettbewerbsfähig bleiben will, muss sich mit Automatisierung befassen. Dabei geht es nicht mal „nur“ um die Abfederung des Fachkräftemangels oder die Steigerung der Produktivität. Automatisierung macht Materialflüsse transparenter, nachverfolgbarer und erleichtert die Dokumentation der Lieferkette erheblich. Deshalb ist es wichtig, jetzt den ersten Schritt auf der Treppe zu gehen, Erfahrungen zu sammeln – und abzustecken, wohin die Reise individuell führen kann.

Individualität ist ein gutes Stichwort: Bekanntlich gleicht ja kein Materialfluss dem anderen. Wie bedienen Sie die unterschiedlichen Kundenanforderungen im Bereich Automatisierung?

Ulrike Just: Indem wir einen modularen Ansatz fahren. Unsere Kunden können mit unseren Lösungen komplette und komplexe Materialflüsse automatisieren, zum Beispiel im Schmalgang, oder über unsere Partner bis in den Bereich statischer Förderlösungen. Sie können aber genauso vergleichsweise simple Punkt-zu-Punkt-Transporte automatisiert abwickeln, also dort, wo vielleicht ein Mitarbeitender den ganzen Tag lang Waren von A nach B bewegt. Damit ist der Einstieg in die Automatisierung gemacht. Man baut eventuelle Berührungsängste bei der Belegschaft ab und hat eine gute Basis, weitere Potenziale zu identifizieren. Dank unserer eigenentwickelten Automatisierungssoftware MATIC:move können wir solche Projekte sehr schnell und damit deutlich kosteneffizienter realisieren. Allein in diesem Jahr bringen wir vier automatisierte Fahrzeuge auf den Markt, die mit MATIC:move arbeiten.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung für die Automatisierung?

Ulrike Just: Eine ganz entscheidende. Ich gehe sogar so weit und sage: Digitalisierung ist die Voraussetzung für Automatisierung. Je digitaler ich aufgestellt bin, je mehr Daten ich habe, desto gezielter und wertschöpfender kann ich meine Warenflussprozesse automatisieren. Besonders deutlich erkennt man diese Verbindung, wenn Künstliche Intelligenz ins Spiel kommt – wie beispielsweise bei unserem Tech-Showcase auf der LogiMAT 2025.

Sie meinen die Kooperation mit KI-Marktführer NVIDIA und das Projekt mit der Plattform Omniverse?

Ulrike Just: Genau. Der ein oder andere Leser hat es vielleicht verfolgt: Vordergründig ist da auf unserem Messestand ein FTS eine Palette nochmal im neuen Winkel angefahren, nachdem ein Staplerfahrer den Warenträger schräg platziert hatte. Doch die „Magie“ lief im Hintergrund ab. Durch Omniverse sind wir in der Lage, ein virtuelles 1:1-Abbild der gesamten Lagerumgebung zu generieren – inklusive aller FTS, aller manuellen Geräte, aller Förderbänder, aller Prozesse, aller Hindernisse, aller infrastrukturellen Gegebenheiten und so weiter. Mithilfe dieses digitalen Zwillings lassen sich dann unterschiedlichste Szenarien in Echtzeit simulieren und Maßnahmen ergreifen, wie im Falle unserer Demo. Das funktioniert, weil Fahrzeuge, Sensoren, Kameras und Co. permanent aktuelle Daten liefern. Hier wird die Digitalisierung also zum Enabler für Next-Level-Automatisierung.

Wozu könnte man solch ein digitales 1:1-Abbild konkret im intralogistischen Alltag einsetzen?

Ulrike Just: Wie gesagt, es lässt sich praktisch alles Erdenkliche simulieren. Nehmen wir an, Sie möchten wissen, wie sich ein neues Geräte-Setup auf Ihre Umschlagsleistung auswirkt. Oder ob es durch geänderte Routenführungen in Ihrem Lager zu Verdichtungen mit Staugefahr kommt. Ein anderes Szenario: Sie haben ein Logistikzentrum für spezifische Bedarfe gebaut, aber nach zwölf Monaten wandelt sich das Anforderungsprofil fundamental. Dank unserem Ansatz können Sie die nötigen Änderungen simulieren und die beste Lösung finden, bevor Sie Ihre gesamte Logistik umkrempeln. Auch die Implementierung neuer FTS lässt sich deutlich beschleunigen, indem man die Fahrzeuge erstmal im digitalen Lager trainiert, bevor sie physisch in Betrieb gehen. All diese Entwicklungen im Bereich Automatisierung und Digitalisierung werden die Welt der Intralogistik komplett auf den Kopf stellen.

Wo sortiert sich hier die erst kürzlich vorgestellte digitale Kundenplattform myLinde ein, die im Herbst 2025 ausgerollt wird?

Ulrike Just: myLinde wird in diesem Kontext ein wichtiger Baustein sein, den wir in den kommenden Jahren in viele Richtungen ausbauen. Schon heute kombinieren wir auf der cloudbasierten Lösung Fahrzeug- und Fahrerverwaltung sowie Energiemanagement und Sicherheitsreportings. Man kann zum Beispiel Zugangskontrollen einrichten, Lastgänge analysieren oder ermitteln, in welchen Lagerbereichen besonders häufig Annäherungen zwischen Fahrpersonal und Fußgängern auftreten. Perspektivisch kommt auch bei myLinde KI mit ins Spiel, sodass Kundenunternehmen ganz individuelle, auf deren Daten gestützte Lösungsempfehlungen erhalten werden.

Jetzt haben wir viel über digitale Technologien gesprochen. Wie sieht es denn auf der anderen Seite des Lösungsportfolios aus – etwa beim klassischen Stapler?

Ulrike Just: Hier schreitet die Entwicklung ebenso rasant voran. Ich denke da zum Beispiel an unseren „NEXT CHAMP“, den Linde Xi – mit Hub- und Senkgeschwindigkeiten von bis zu 20 Prozent über Branchendurchschnitt, bestätigt durch den TÜV Nord. Das ist ein starkes Versprechen in Richtung Kunde: Unsere Lösungen bringen auch in manuellen Anwendungen heute, morgen und übermorgen zählbare Mehrwerte! Und wo wir gerade dabei sind: Natürlich fokussieren wir parallel stark auf das Thema Service und Reaktionszeiten. Wenn ein Linde-Stapler tatsächlich mal ausfällt, kommt das Ersatzteil nicht per Container vom anderen Ende der Welt, sondern ist am nächsten oder sogar noch am selben Tag vor Ort, damit der Kundenprozess wieder läuft. Linde MH verfügt über eines der europaweit dichtesten Servicenetzwerke der Flurförderzeugbranche, und Projekte wie das gerade eröffnete Ersatzteildistributionszentrum in Kahl am Main werden die Verfügbarkeit künftig sogar nochmals verbessern. Im Übrigen ist schneller Service nicht nur für reguläre Stapler und Lagertechnikgeräte von Vorteil. Auch im Bereich Automatisierung sind wir mit Lösungsberatung und Rundum-Betreuung für Kundenunternehmen stets greifbar.

Frau Just, blicken wir zum Abschluss nochmals in die Zukunft – und zu einem Thema, bei dem viele Leser und Leserinnen hellhörig werden dürften: Wie ist der Entwicklungsstand beim autonomen Outdoor-Stapler? Wann wird diese Technologie marktreif sein?

Ulrike Just: Tatsächlich stehen hier schon 2026 die ersten Pilotprojekte mit Kundenunternehmen an. Das heißt: Ab dem kommenden Jahr werden autonome Linde-Gegengewichtsstapler in realen Außeneinsätzen bestimmte Warentransporte abwickeln. Und das sind dann keine Versuchsträger, die aussehen wie aus einem Hightech-Labor, sondern optisch cleane, auf Linie gefertigte Fahrzeuge. In dieser Form wird das im Markt absolut einzigartig sein. Für die weiteren Ausbaustufen streben wir dann das selbstständige Be- und Entladen von Lkw an, die Königsdisziplin sozusagen. Was mir persönlich wichtig ist, wenn wir über solche Innovationen sprechen: Ja, es werden durch Automatisierung sukzessive weniger Menschen in der Intralogistik arbeiten – aber man wird menschliche Arbeitskraft niemals komplett ersetzen können. Vielmehr verschieben sich die Kompetenzen: hin zu Koordination, Überwachung, Steuerung und dem Treffen von Entscheidungen auf Basis von Daten. Also dorthin, wo künftig die wirkliche Wertschöpfung stattfindet.

Veröffentlicht am 10.07.2025